Brahms
Programm

Klavierkammermusik von Frederic Chopin und Johannes Brahms

Das musikalische 19. Jahrhundert wurde von zwei gegenläufigen Tendenzen geprägt. Auf der einen Seite stehen Versenkung in die Innerlichkeit, Rückzug in kleine Formen und geringbesetzte Genres sowie die Wahl intimer Aufführungsorte, also die Neigung zu Kammermusik, Klavierstück und Lied. Auf der anderen Seite sind Auftrumpfen in der Monumentalität, der Aufbau großer Formen und der Einsatz reichbesetzter Apparate zu bemerken, die Feier erhabener Werke im Kunsttempel des Konzertsaals oder Operntheaters. Dieses polare Verhältnis von Verinnerlichung und Nach-Außen-Wenden wird freilich auf subtile Weise unterlaufen, indem sich kammermusikalische Schöpfungen symphonisch gebärden und Großgattungen aus dem kompositorischen Geist der Kammermusik gestaltet werden. Da gibt es dann apotheotisch sich aufgipfelnde Werke für eine Handvoll Instrumente - man könnte despektierlich sagen: Symphonien fürs Wohnzimmer -neben symphonischen Entwürfen, die ganz schlichte, liedhafte Satztypen ausbilden. Neben dem Großen und dem Kleinen, der Monumentalität und der Intimität beobachten wir also das Große, das aus dem Geist des Kleinen lebt, und das Kleine, das im Gewand des Großen auftritt.
Was in dieser Beschreibung vielleicht etwas abstrakt und unanschaulich wirkt, führt in wünschenswerter Klarheit das Programm der vorliegenden CD vor Ohren. Zu hören ist ein veritables Konzert für Klavier und Orchester, ein Werk, das für die große Bühne konzipiert worden ist, das aber seiner ganzen Art nach mehr auf die monologische Präsentation von Musik ausgerichtet ist, also eher solistische Kammermusik darstellt, verkleidet als konzertantes Großereignis. Als zweites erklingt ein Klavierquintett, also ein Stück für Streichquartett und Klavier, das von Anfang an so klingt, als habe der Komponist seine erste Symphonie im Kopf gehabt. Beim ersten Werk handelt es sich um Frederic Chopins Klavierkonzert f-Moll op. 21, beim zweiten um das Klavierquintett f-Moll op. 34 von Johannes Brahms.

Chopin komponierte das f-Moll-Konzert, sein erstes, im Jahr 1829. Es handelt sich um ein Virtuosenkonzert, wie es in den 1820er/30er Jahren in Mode war und in Komponisten wie Hummel, Kalkbrenner, Herz oder Field seine erfolgreichen Vertreter hatte. Die Ziele des Genres waren klar definiert: Zur-Schau-Stellung motorischer Beweglichkeit; Verblüffen durch Schnelligkeit, mechanische Ausdauer, Gleichmäßigkeit; Ohrschmeicheln durch eingängige Melodik - die Werke trugen einen stark artistischen, ja, zirzensischen Akzent. Chopins Konzert gehört diesem Konzerttyp an. Es ist temperamentvoll, brillant, harmonisch ausgreifend, rhythmisch akzentuiert, elegant, gefällig, unterhaltsam. Doch es bietet mehr als die meisten anderen Virtuosenkonzerte dieses Zuschnitts, die in unseren Ohren auf die Dauer etwas leer klingen: Es bietet die Poesie romantischen Klavierspiels, die stimmungsvolle Atmosphäre der Mazurkas, Impromptus oder Nocturnes, denen sich Chopin ja bald ausschließlich zuwandte. Die Komposition hat trotz allem virtuos-vordergründigen Glanz und Glitzern eine intime Hinterbühne. Chopin hat übrigens seine konzertanten Werke in der Öffentlichkeit eher diskret vorgeführt, zurückhaltend statt auftrumpfend. So schreibt er in einem Brief von 1829:
„ Die allgemeine Meinung jedoch ist, dass ich zu leise gespielt habe, vielmehr zu delikat für die Deutschen, die gewöhnt sind, dass man auf ein Klavier eindrischt Ich erwartete diesen Vorwurf, zumal die Tochter des Redakteurs schrecklich auf das Instrument einschlägt. Schadet nichts, denn ohne ein Aber kann es wohl nie abgehen, und ich habe lieber dies, als wenn man sagte, dass ich zu laut spiele."
Dass in diesem Konzert das Orchester nur eine wenig dankbare Nebenrolle spielt, unterstreicht den solistischen Charakter des Werks. Die Instrumentierung ist konventionell, wenig differenziert. Geboten wird ein Klangteppich aus liegenden Noten, die Bläser intonieren einige ausdrucksstarke Melodielinien, doch gibt es keine gleichwertige Partnerschaft zwischen Klavier und Begleitung. Alle wichtigen musikalischen Ereignisse und Emotionen gehen vom Solisten aus, das Orchester schafft die nötigen Rahmenbedingungen für die solistischen Monologe. Das ist von Musikern und Kritikern an Chopins Konzert immer wieder bemängelt worden. Von daher liegt es nahe, das Orchester durch ein kammermusikalisches Ensemble zu ersetzen, das Konzert von der großen Bühne herunterzuholen und ihm einen Platz im Kammermusiksaal einzuräumen. Das war schon für Chopin und seine Zeitgenossen kein fremder Gedanke, wissen wir doch, dass es Arrangements des Konzerts für Klavier und Streichquartett oder -quintett gegeben hat. Die auf dieser CD zu hörende Version steht also in einer verbürgten Tradition, auch hinsichtlich des Bearbeitungsverfahrens: Streichquartett und Kontrabass übernehmen im wesentlichen die originalen Parte des Streichorchesters, während das Klavier in den Tuttistellen die Bläserstimmen ausführt. Somit geht keine Note von Chopins Komposition verloren.

Neunundzwanzig Jahre war Johannes Brahms alt und im Bewusstsein der musikalischen Öffentlichkeit ein Komponist vornehmlich von Klaviermusik und Liedern, als er sich im Sommer 1862 mit der Konzeption eines großdimensionierten Instrumentalwerks trug. Ein Streichquintett sollte es werden, wenn der Plan auch, kaum verborgen, die Umrisse einer Symphonie verriet. Als die Freunde seines engsten Vertrauens, Clara Schumann und der Geiger Joseph Joachim, die fertiggestellte Quintettpartitur zur kritischen Durchsicht erhalten hatten, waren sie des Lobes voll: „Es ist [...] ein Stück von tiefster Bedeutung, voll männlicher Kraft und schwungvoller Gestaltung ".urteilte Joachim in einem Brief. Freilich meinte er auch, dass dem Stück trotz (oder gerade wegen) der „fast übermütigen Gestaltungskraft" seines Verfassers „Klangreiz" fehle; die hohe Dichte des Tonsatzes mutete den Streichinstrumenten offenbar mehr zu, als sie zu leisten vermochten. Brahms zog aus diesem Votum die Konsequenzen und arbeitete das Werk zu einer Sonate für zwei Klaviere um. Nun war es Clara Schumann, die den wunden Punkt dieser Fassung berührte. Am 22. Juli 1864 meinte sie, das viersätzige Stück sei „keine Sonate, sondern ein Werk, dessen Gedanken Du wie aus einem Füllhorn über das ganze Orchester ausstreuen könntest - müsstest. [...] Ich hatte beim Erstenmalspielen das Gefühl eines arrangierten Werkes." Der dringenden Empfehlung des Dirigenten Hermann Levi, die Sonate nochmals umzugestalten, entsprach Brahms schließlich im Herbst 1864. Er entschloss sich zur Besetzung eines Quintetts aus Klavier und Streichquartett. Diese damals noch seltene Kombination stand bezeichnenderweise nicht in der Tradition der Wiener Klassik, sondern hatte ihr (einsames) Vorbild in Schumanns Klavierquintett von 1842. Während Brahms nach Vollendung dieser Version an der zuvor geschaffenen für zwei Klaviere ausdrücklich festhielt und diese später zum Druck beförderte, vernichtete er die ursprüngliche Fassung für Streichquintett.
Die vier Sätze weisen das für viele Werke des Komponisten typische, manchmal sogar unvermittelt, gar schroff wirkende Neben- oder Gegeneinander von musikalischen Charakteren auf. Diese Kontraste, in den Sonatensätzen als Gegensätze der thematischen Bereiche, in den lied- oder rondoförmigen Sätzen als solche der Rahmen- und Binnenteile gestaltet, erfahren jedoch eine starke innere Vermittlung durch eine ungewöhnliche Dichte der motivisch-thematischen Beziehungen. Dazu kommt ein ausgesprochen dynamischer Zug der rhythmischen und modulatorischen Bildungen, die dem Formbau der Teile zu weiten Dimensionen verhelfen, wie sie Brahms in seiner Kammermusik selten mehr erreichte. Diese im Blick auf den Zyklus unverkennbar finalorientierte Anlage erfährt eine zusätzliche Steigerung durch die dem Schlußsatz vorangestellte langsame Einleitung (eine im brahmsschen CEuvre sonst nur in der Klaviersonate op. 2 und der Ersten Symphonie op. 68 anzutreffende Erscheinung).
Beim zeitgenössischen Publikum erzielte Brahms mit seinem Klavierquintett keinen übermäßigen Erfolg. Zwar versagte man dem Komponisten nicht den Respekt, fand aber teils den musikalischen und intellektuellen Anspruch des Werks zu hoch oder stand generell dessen „modern-romantischem Stil", wie er genannt wurde, reserviert gegenüber. Gut könnte man sich ein Arrangement des Werks für großes Symphonieorchester vorstellen, so wie Arnold Schönberg das erste Klavierquartett g-Moll op. 25 für ein solches bearbeitet hat, eine Version, die immer auch noch aufgeführt wird.
Wie dem auch sei: Der Hörer kann sich anregen lassen vom quidproquo zwischen Groß und Klein, von Chopins f-Moll-Klavierkonzert als kammermusikalischem Sextett, von Brahms f-Moll-Klavierquintett als einer heimlichen Symphonie.

Ulrich Konrad