Haydn
Programm
Angaben CD

Wohl 1785 wurde an den in Diensten der Fürsten Esterhäzy stehenden Joseph Haydn eine sehr ungewöhnliche Bestellung herangetragen. Sie kam aus der andalusischen Stadt Cädiz, und lautete auf eine orchestrale Musik über die Sieben Worte Jesu am Kreuze. Die näheren Umstände, in die sich die Komposition einzupassen hatte, schilderte Haydn 1801 im Vorbericht zu einer Druckausgabe:

"Man pflegte damals alle Jahre während der Fastenzeit in der Hauptkirche zu Cadix ein Oratorium aufzuführen, zu dessen verstärkter Wirkung folgende Anstalten nicht wenig beytragen mußten. Die Wände, Fenster und Pfeiler der Kirche waren nehmlich mit schwarzem Tuche überzogen, und nur Eine, in der Mitte hängende große Lampe erleuchtete das heilige Dunkel. Zur Mittagsstunde wurden alle Thüren geschlossen; jetzt begann die Musik. Nach einem zweckmäßigen Vorspiele bestieg der Bischof die Kanzel, sprach eines der sieben Worte aus, und stellte eine Betrachtung darüber an. So wie sie geendiget war, stieg er von der Kanzel herab, und fiel knieend vor dem Altare nieder. Diese Pause wurde von der Musik ausgefüllt. Der Bischof betrat und verließ zum zweyten, drittenmale u. s. w. die Kanzel, und jedesmal fiel das Orchester nach dem Schlüsse der Rede wieder ein. Dieser Darstellung mußte meine Composition angemessen seyn. Die Aufgabe, sieben Adagio's wovon jedes gegen zehn Minuten dauern sollte, aufeinander folgen zu lassen, ohne des Zuhörer zu ermüden, war keine von den leichtesten; und ich fand bald, daß ich mich an den vorgeschriebenen Zeitraum nicht binden konnte."

Das so beschriebene Ereignis fand wahrscheinlich am Karfreitag des Jahres 1786 in der unterirdischen Kirche Santa Cueva zu Cádiz statt. Was Haydn in Spanien Erfolg und Einnahmen beschert hatte, sollte auch in heimischen Landen Frucht tragen. Die Partitur der sinfonischen Komposition, aber auch das von Haydn in aller Eile im Februar 1787 angefertigte Arrangement des Werks für Streichquartett sowie ein Klavierauszug nahm der Wiener Verleger Artaria in sein Programm auf. Spätestens Anfang 1796 lag Haydns Einrichtung der Sieben Worte für Chor und Orchester auf revidierte Texte eines Passauer Domherren vor.
Haydn selbst hat in dem zitierten Bericht angegeben, worin für ihn die Schwierigkeit (damit wohl aber auch der Anreiz) des Auftrags bestand: Wie läßt sich über eine Folge von sieben langsamen Sätzen musikalische Spannung aufbauen, aber auch Abwechslung und Kontrast erzielen? Haydn entschloß sich zur Anwendung mehrerer Verfahren. Einmal stattete er jede seiner Sonaten - so nannte er die Sätze, und tatsächlich ergeben ihre Verläufe rudimentäre Sonatenformen - mit "sprechenden" Themen aus, das heißt, er orientierte die musikalische Phrasenbildung der Satzanfänge an den jeweiligen (lateinischen) Formulierungen der Worte Jesu (die im Erstdruck den Stimmen unterlegt waren).
Zum ändern verwandte Haydn große Sorgfalt auf die groß- und binnenformale Disposition der Tonarten; dabei berücksichtigte er auch Charakteristika, die den Tonarten aus der Tradition zugewachsen waren.
Drittens schließlich verzichtete Haydn auf effekthafte "Malerei" programmatischer Details zugunsten einer ganz aus der Musik heraus gewonnenen Affektdarstellung. Auf diese Weise entziehen sich Haydns Kompositionen über die Sieben Worte aller vordergründigen Übersetzbarkeit der Musik in wortsprachlich zu vermittelnden Inhalt. Selbst beim abschließenden "Erdbeben", dessen musikalische Ungebärdigkeit am ehesten plastische Bilder von Erschütterung und Zerstörung hervorzurufen vermag, verweist das Pittoreske weniger auf ein Naturschauspiel als auf den Zusammenbruch aller Hoffnungen am Karfreitag.

Prof. Dr.Ulrich Konrad