Poulenc
Programm

Französische Violinsonaten des 19. und 20. Jahrhunderts

Das in so vieler Hinsicht faszinierende und bis heute nachwirkende 19. Jahrhundert hat einen verhängnisvollen Gedanken hervorgebracht, der dann im 20. Jahrhundert in fataler Konsequenz zum Äußersten getrieben worden ist, nämlich den des Nationalismus. Mit ihm verbunden war der Wille von Staaten und Völkern, sich über andere zu erheben, also Hegemonialansprüche durchzusetzen. Diese Bewegung betraf auch die kulturellen Hervorbringungen der einzelnen Nationen. Die Deutschen sahen sich dabei als das Volk, dem - unter anderem - auf dem Gebiet der Musik die Vorherrschaft gebühre. Bach, die Wiener Klassiker Haydn, Mozart und Beethoven, die Romantiker Schubert und Schumann, dann Wagner, Brahms und Bruckner, sie galten als Garanten für die uneinholbare Größe der deutschen Musik vor der aller anderen Nationen. Noch Arnold Schönberg meinte in den 1920er Jahren nach der Ausarbeitung seiner Zwölftonmethode allen Ernstes, er habe nun die Vorherrschaft der deutschen Musik für die nächsten hundert Jahre gesichert. Aus dieser nationalistisch getrübten Perspektive wurde die Musik anderer Nationen -besonders die französische im Westen, die italienische im Süden - als zweitklassig und weniger hörenswert bewertet.
Dass die Franzosen und Italiener das jeweils anders sahen, versteht sich von selbst. Zwar gab es im 19. Jahrhundert in Frankreich eine tiefgehende künstlerische Rezeption der Musik Beethovens und Wagners -Italien erwies sich da als resistenter -, aber es entwickelte sich mehr und mehr auch hier ein Bewusstsein von spezifisch französischer Musik. Spätestens mit dem deutsch-französischen Krieg und der Gründung des Deutschen Reichs 1870/71 war die Rivalität zwischen Deutschen und Franzosen auch auf dem Gebiet der Musik manifest.
Die drei Werke auf vorliegender CD sind von diesem mentalitäts- und kulturgeschichtlichen Hintergrund nicht zu trennen. „Französische" Violinsonaten meint nicht bloß Violinsonaten von französischen Komponisten, sondern Werke, die nach dem Willen ihrer Schöpfer dezidiert ein nationales Idiom verwirklichen. Es handelt sich zudem um Kompositionen, die jeweils unter zum Teil extrem spannungsreichen äußeren Bedingungen entstanden sind. Das trifft massiv auf die ersten beiden Sonaten zu, die von Claude Debussy aus dem Kriegswinter 1916/17 und die von Francis Poulenc aus dem Kriegswinter 1942/43.

Debussys Violinsonate ist seine letzte abgeschlossene Komposition überhaupt; er schrieb sie als todkranker Mann, aber durchaus in kämpferischer Absicht. Damals hatte er sich vorgenommen, mit einer Reihe von sechs Instrumentalsonaten Muster wahrhaft französischer Musik zu komponieren. Als deren vornehmste Eigenschaften nannte er einmal „grace profonde" („tiefsinnige Anmut") und „emotion sans epilepsie" („Gefühl ohne Krampfzustände"). In dieser Charakterisierung schwangen die Ressentiments gegen die deutsche Musik mit: Diese klang in Debussys Ohren zwar vielleicht tiefsinnig, aber eben ohne Anmut, und sie mochte gefühlvoll sein, doch in verkrampfterweise. Nach der Cellosonate und der Triosonate für Flöte, Bratsche und Harfe entstand als dritte die Violinsonate. Ihr Autor nannte sich auf dem Titelblatt des Erstdrucks ausdrücklich „Musicien Francais". Dieses dreisätzige Abschiedswerk ist formal freizügig, enthält eine große Fülle wechselnder Klangbilder, bietet eine ornamentreiche, eher rhapsodische Folge von Motiven, thematischen Bildungen, auch bloßen Tongesten: In dieser Musik wird nicht durchführungsartig gearbeitet oder kontrapunktisch kombiniert, sondern die Musik will in sehr beherrschter, leichter, phantastischerweise spielen, will Sonate in ursprünglichster Wortbedeutung sein, nämlich Klangstück. Das Rhapsodisch-Sprunghaft-Phantastische der Sätze ist tatsächlich frei von jeder Ausdrucksattitude, von bekenntnishafter Bedeutung. Diese Musik ist, wenn das einmal so gesagt werden darf, nebelfrei, und sie nicht mit wachem Verstand zu hören, wäre gewiß gegen die Intentionen des Komponisten.

Poulenc gehörte der nach dem Ersten Weltkrieg um den literarischen Wortführer Jean Cocteau herum tätigen „Groupe des Six" an. Die jungen Musiker verband eine Lebensauffassung, die von Humor, Urbanität, Antiakademismus, überhaupt von Anti-Affekten bestimmt war: vor allem vom Gegen-Wagner- und Gegen-Debussy-Affekt. Sie strebten danach, Erscheinungen aus der bunten Fülle großstädtischen Lebens zusammenzuführen: Surrealismus, Nightclub, Kirchenmusik - die Extreme konnten nicht groß genug sein. Die Musik sollte von allem historischen und ideologischen Ballast befreit werden. Keine großen Gesten, kein strenger Kontrapunkt, keine komplexen Durchführungen sollten den Hörer belasten, dafür aber eine Offenheit gegenüber der Musik anderer Kulturen und der Popularmusik, etwa gegenüber dem Jazz oder dem Schlager, ihn einnehmen. Das Ziel war eine möglichst unprätentiöse Alltagskunst. Freilich konnte es auf die Dauer nicht bei solchem Halb-Ernst bleiben, aber Poulenc ist sich doch zeitlebens darin treu geblieben, mit künstlerischem Gewissen eine Musik der leichten Hand zu schreiben. Wenn ihm dabei ein Werk nicht gelang, dann wurde es einfach vernichtet - so wie es den ersten beiden Violinsonaten Poulencs ergangen ist, die dem Verfasser nach Abschluß der Komposition mißfielen. Nur eine dritte Sonate entging diesem Schicksal, die einzig bekannte - wobei auch sie vor dem kritischen Ohr ihres Schöpfers nur bedingt Gnade fand. Anstoß für das Werk war das tragische Ende des spanischen Schriftstellers und Dichters Federico Garcia Lorca, der 1936 von Nationalisten ermordet worden war. Über dem zweiten Satz der Sonate steht als Motto ein Vers des Dichters: „La guitarefait pleurer lessonges" - „Die Gitarre läßt die Träume weinen"; er stimmt auf einen nachdenklich-versonnenen, imaginären Gesang in einem nächtlichen spanischen Garten ein. Der erste Satz ist dreiteilig angelegt und reiht kontrastierende, lebhafte wie zurückgenommene Abschnitte; dabei spielt Poulenc auch mit Reminiszenzen an berühmte Werke der Literatur (vielleicht erkennt der ein oder andere etwa ein Motiv aus dem langsamen Satz von Tschaikowskys Violinkonzert). Das Finale trägt den eigentümlichen Titel „Presto Tragico", ist ein Satz in freier Rondoform, in dem es lebhaft zugeht und der am stärksten dem Geist der „Graupe des Six" nahekommt, doch der, wenn man es so sagen will, böse endet: In der Coda bricht ein Unheil in die Musik hinein, Trauer und Klage machen sich breit. Diesen Satz hat Poulenc 1949 überarbeitet, auch unter dem Eindruck des Unfalltodes von Ginette Neveu, der Geigerin, mit der er das Stück 1943 uraufgeführt hatte.

Cesar Franck gehört ganz dem 19. Jahrhundert an. Der Wallone, Sohn eines Belgiers und einer Deutschen, kam schon als Junge nach Paris und verbrachte dort ein unruhiges und arbeitsüberlastetes Leben als Komponist, Pianist, Organist und Pädagoge. Seine einzige Violinsonate entstand 1886, als Franck im Zenit seiner öffentlichen Anerkennung stand. Er war Mitglied der Ehrenlegion und füngierte als Präsident der Societe nationale de musique. Doch schon die Generation von Debussy und Ravel oder später der Graupe des Six konnte und wollte mit seiner Musik nicht mehr viel anfangen. Denn sie war, auf ihre ganz eigene Weise, deutsch und französisch zugleich. Franck sah sich selbst in der Tradition der Klassik, er wollte so etwas wie der französische Beethoven sein. In seiner Violinsonate wendet er, wie in anderen seiner ambi-tionierten Kompositionen auch, Verfahren der zyklischen Verklammerung aller Sätze an, versucht also, die vier Teile der Sonate durch motivische Verwandtschaft aneinanderzubinden. Das wirkt, wenn man bewußt darauf achtet, manchmal ein wenig gewollt. Aber die handwerklichen Kniffe werden überlagert von dem starken Ausdruckswillen Francks, dem romantischen Gefühlsüberschwang ebenso wie den verinnerlichten Lyrismen. Es gibt hymnische Steigerungen, effektvolle Passagen, wunderbare gesangliche Inseln, kurzum, diese Sonate stellt das französische Pendant zu den Violinsonaten etwa Schumanns oder Brahms' dar, und sie genießt ihre ungebrochene Beliebtheit bei Musikern und Publikum zu Recht. Gewidmet hat Franck das Werk seinem Landsmann Eugene Ysaye, der es auch 1887 erfolgreich uraufführte.


Ulrich Konrad